Ich kannte einen Sonderling, der ein so falsches Gehör besaß, daß er – wenn er es mit einer Theorie untermauert hätte – gewiß eine umwälzende Rolle in der Geschichte der Musik gespielt hätte.
(S. J. Lec, 1909–1966, »Unfrisierte Gedanken«)
Wußten Sie, daß ein Musikstück nach landläufiger Meinung, keinen Anfang, kein Ende und zwischen keinem Anfang und keinem Ende nix drin hat? Nämlich:
»Wir müssen uns endlich von der ›Werk‹-Idee verabschieden, von der Vorstellung, daß auskomponierte Musik immer einen vorgeschriebenen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muß.«
Der dies sagt, hat sich entschieden, nichts zu entscheiden, weil
»... ich als Komponist mich entscheide, gewisse Entscheidungen dem Interpreten zu überlassen ...«
Von der Entscheidung des Interpreten
»... kann selbstverständlich auch die Dauer ... betroffen sein.«
Z.B. könnte er sich entscheiden, daß die Dauer null sein soll, und so eigene Vorstellungen einbringen (weil er den Abendzug noch kriegen muß oder sein Honorar vielleicht schon gekriegt hat). Und wenn er nun einmal die Vorstellung hat, daß dieses Stück besser gar nicht erst anfangen soll, dann fängt es eben gar nicht erst an. Das hätte immerhin den Vorteil, daß es auch nicht aufhören muß. Dann findet nur die Mitte mit nix drin statt, und das spart nicht nur Zeit, es schont auch die Nerven der Musiker und Zuhörer. Ein solches Vorgehen hätte zudem erzieherische Funktion und sollte darum in das Repertoire jener pädagogischen Kunstgriffe aufgenommen werden,
»... die neue Dimensionen des Hörens aufschließen, die ein intensives und konzentriertes Hören, geradezu Dimensionen des Lauschens befördern.«
Die Musiker spielen nix, die Hörer hören nix, eine neue Musikrichtung wäre geboren,
»... und der Umgang mit Stille ist ein Aspekt dieser Richtung.«
Eine Richtung, die auch hygienische Wirkung hätte und jedem HNO-Arzt das Herz höher schlagen ließe,
»... denn die Intensität des Lauschens putzt die Ohren aus.«
In der Praxis hätte man sich das so vorzustellen, daß das Publikum lauscht – und hört nix. Da lauscht es noch intensiver – und hört immer noch nix. Und so lauscht es und lauscht es und lauscht es ... und kennt hoffentlich das Signal (das am besten vorher verabredet werden sollte), das jene Wende markiert, wo die angespannte Konzentration nachlassen und sich in befreiendem Applaus entladen darf.
Allerdings ist die Stille seiner Musik nicht das Einzige, was den heutigen Komponisten auszeichnet, schließlich wäre damit
»... seine Arbeit nur oberflächlich beschrieben, denn seine Sprechdenkschreib-Prozesse berühren einen tiefliegenden Punkt jenseits des Semantischen, mit der Tendenz zur Entmaterialisierung.«
Sprechen – Denken – Schreiben, in dieser Reihenfolge hat man sich den Schaffensprozeß des Kreativen heute vorzustellen: Es tritt zunächst das faselnde Moment in Gestalt bewegter Lippen in Aktion, dann schaltet man das Gehirn ein und denkt darüber nach, wie man das Gesagte, wenn auch nicht begründen, so doch so formulieren könnte, daß es reflektiert erscheint und aufgeschrieben werden kann. Was dann aufgeschrieben wird, liegt jenseits des Semantischen, maßt sich also nicht an, irgend etwas zu bedeuten, sondern fällt ins Bodenlose des Nichtssagenden, oder vielmehr fast ins Bodenlose; denn es bleibt schließlich doch an einem tiefliegenden Punkt hängen. Von dort wird es entmaterialisiert, nämlich an den nächsten Veranstaltungsort »gebeamt«. Das bereitet heute dank Faxgerät keine technischen Probleme mehr, und der Komponist freut sich, wie sie dort ankommen,
«... sowohl seine Denklandschaften und seine Sprachblätter als auch seine phonopoetischen Entwürfe...«
Und sie kommen nicht nur an, sie bewirken auch etwas, nämlich
»... setzen Bewußtseinszonen aus dem Unterbewußten frei...«
Dem einen oder anderen mag es hart ankommen zu verstehen, was Bewußtseinszonen aus dem Unterbewußten sind, aber vielleicht hilft der Vergleich mit den Löchern in einem beliebten Milchprodukt, es anschaulich zu machen: Es sind käselose Bereiche im Käse. Solch ein Loch ist oft »nur halb zu sehn und ist doch rund und schön«.
Nicht alle Komponisten allerdings entscheiden sich, nichts zu entscheiden und dem Interpreten die Bürde der Entscheidung aufzulasten. Einer z.B. hat sich
»...dafür entschieden, die Aktionen der Spieler auf zwei Körperhälften zu verteilen; jede Hälfte hat eine andere Aufgabe zu erfüllen. So wie alle Solisten auch dialogisiert der Schlagzeuger zunächst einmal nur mit sich selbst: die linke Körperhälfte führt einen Dialog mit der rechten.«
Auch das muß man sich in etwa so vorstellen, daß die Löcher im Käse mit dem Käse dialogisieren.
Loch und Nichtloch, Werden und Vergehen, Dienst und Feierabend, Generation und Degeneration,
»Wissen und Gewissen,«
Wurst und Käse – wodurch könnten dergleichen Gegensatzpaare besser symbolisiert werden als durch Musikinstrumente? Wir kennen den Auf- und Abstrich bei der Geige, wir kennen Pusten und Saugen bei der Mundharmonika. Letztere macht den Gegensatz sogar auditiv erfahrbar, denn beim Pusten hören wir den C-dur-Dreiklang, beim Saugen den G-dur-Sept-Nonen-Akkord. Und wie diese beiden, Tonika und Dominante, miteinander dialogisieren, ist geradezu eine musikalische Ur-Erfahrung, die uns schon ein Kleinkind vermitteln kann, dem wir eine Mundharmonika in den Mund schieben, einen Klaps auf den Po geben, und das wir dann davonlaufen lassen: Der Dialog zwischen gepusteter Tonika und gesaugter Dominante wird den kleinen Balg eine geraume Weile beschäftigen und so bald nicht enden.
Nun wird jedoch
»... das Auditive zunehmend zurückgedrängt,«
und so mancher Komponist meint darum:
»Ich als ›Macher‹ kann mich einer solchen Entwicklung nicht verschließen.«
Wir kennen heute
»... eine größere Bedeutung des Visuellen ... in den Künsten...«
und würden mit der Mundharmonika darum den Zeitgeschmack wohl nicht so recht treffen. Zum Glück gibt es ein Instrument, mit dessen Hilfe man auch visuell dialogisieren kann, nämlich das Akkordeon:
»Das Dialogisieren des Akkordeonspielers wird durch das Ziehen und Schließen des Balgs zum Ausdruck gebracht. Jede der beiden Zugrichtungen symbolisiert ein anderes ›Ich‹. Einer gibt, der andere nimmt.«
Man hört zwar nicht mehr, wann’s saugt und wann’s pustet, aber man sieht’s, und
»... da jeder der Spieler dieses Prinzip konsequent durchhält, entsteht vielleicht der Eindruck einer gewissen Schizophrenie, einer Person, die zweigeteilt ist, die zweifelt.«
Wenn wir zu dem Schlagzeuger, dessen linke Körperhälfte sich vor Publikum mit der rechten unterhält, dem Akkordeonisten, dessen ziehender Balg eine Unterhaltung mit dem schiebenden führt, noch einen Kontrabaß hinzunehmen, der einen
»Dialog über Feuer«
gestaltet, sowohl
»... ein Symbol des Todes, der Vernichtung, als auch der Wärme, also des Lebens, ...«
und einen Gitarristen, der in einem
»Dialog über Wasser«
mit sich selber Zwiesprache hält, dann haben wir’s zusammen, das Quartett. Und das bekommt jetzt
»... die Aufgabe, etwas Gemeinsames herzustellen. Was es ist, weiß niemand.«
Aber das muß auch niemand wissen. Vielleicht reden sie übers Wetter; über Stockhausens Komposition für vier Helikopter und Streichquartett; darüber, wie man Lieder
»... durch extreme Verdichtung selbst im Klang transformiert, ...«
und ob dieses selbst sich auf die Lieder, die Verdichtung, den Klang oder die Transformation beziehe, und was im Klang transformieren eigentlich bedeute; oder man diskutiert, wie
»... unterschiedliche Glasqualitäten gerieben, gestrichen, geschlagen und zerschlagen ...«
werden könnten; oder wie es gelinge,
»... eine Installation in eine Konzertsituation zu transformieren, ...«
das Klempnern also auf Musikinstrumenten darzustellen, – und was der weltbewegenden Themen mehr sind. Wir wissen nicht, worüber die vier streiten, aber
»... das ist auch uninteressant, wichtig ist, daß sie miteinander kommunizieren.«
Wir wissen auch nicht, was Kulturschaffende sagen, wenn sie reden, denn es liegt offensichtlich jenseits des Semantischen. Aber das macht nichts. Hauptsache, sie reden überhaupt, und die Zeitungen drucken es.
Im November 2003, also acht Jahre später, kann man auf Seite 33 der »Neuen Musikzeitung« wörtlich folgendes lesen:
»Ein Blick in die Partitur läßt hochkomplexe Strukturen erkennen ... Was man beim flüchtigen Überschlagen nicht sogleich sieht, sind die verwegen langen Pausen und auch die Anweisungen, vieles mit der Lautstärke Null zu spielen. Also waren eine halbe Stunde lang die Musiker des Klangforums Wien zu beobachten, die hochkonzentriert und wie erstarrt zu 99 Prozent nichts produzierten – dies aber mit äußerster Anstrengung.«