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»Komponieren« heißt »Zusammenfügen«; und daß man mit dem Zusammenfügen von lauter Versatzstücken durchaus mit Erfolg komponieren kann, beweist jeder Blues und Boogie, jedes Popliedchen und fast jedes Stück in der Machart z. B. eines Yann Thiersen. Viele solcher Stücke entstehen heute, indem der »Komponist« am Computer geläufige »Patterns« zusammenstückelt und »loopt« – nicht zufällig findet man das vollständige Faksimile von Kirnbergers »allezeit fertigem Polonoisen-Komponisten« bei der Uni Mainz unter der Rubrik »Musikinformatik«:
http://www.musikwissenschaft.uni-mainz.de/Musikinformatik/
Klischees sind aber nicht erst ein Markenzeichen moderner Unterhaltungsmusik, sondern ziehen sich durch die gesamte Musikgeschichte von den Gregorianischen Chorälen bis zu den Salonstückchen der Romantik.
Vielleicht kann man sagen, daß der deutsche Musiktheoretiker und Organist Johann Philipp Kirnberger mit seiner Anweisung von 1757, wie man eine »unzählbare Menge von Polonoisen, Menuetten und dazugehörigen Trios« mit Hilfe eines Würfels verfassen könne, einen Vorläufer von Computer-Programmen veröffentlichte, denn Computer-Programme reichen heute von »Band in a Box« bis zu Kompositionswerkzeugen, die versprechen, ein Streichquartett oder ähnlich Anspruchvolles generieren zu können, und tun eigentlich kaum etwas anderes als Kirnbergers Würfelspiel, auch wenn sie wohl etwas ausgefeiltere Algorithmen benutzen. Und Begleit-Automatiken, die irgendein Muster auf Knopfdruck abspulen, gibt es in elektronischen Keyboards ja schon sehr lange.
Von den vorgefertigten Takten Kirnbergers sind hier nur die für Menuette wiedergegeben, es fehlen also die Menuett-Trios und Polonaisen. Daß man mit den Menuett-Takten eine »unzählbare Menge« an Stücken erzeugen könne, ist von Kirnberger zuviel versprochen, denn die scheinbar 6×6×6×6×6×6×6×6 = 1.679.616 Möglichkeiten sind sich natürlich alle ähnlich, folgen alle demselben Muster und benutzen immer nur eine ganz bestimmte Reihenfolge, in der die Takte zusammengefügt werden können, weil Takte, die als Takt 1 brauchbar sind, nicht als Takt 2–8 verwendet werden können. Zudem sind die Schlußtakte einer achttaktigen Periode immer dieselben.
Kirnbergers Beispiel ist nicht das einzige solcherart Würfelmusik. Von Carl Philipp Emanuel Bach gibt es den »Einfall, einen doppelten Contrapunct in der Octave von sechs Tacten zu machen, ohne die Regeln davon zu wissen«, Maximilian Stadler veröffentlicht 1781 eine »Tabelle, aus welcher man unzählige Menueten und Trio für das Klavier herauswürfeln kann«, Joseph Haydn 1790 ein »Gioco filarmonico o sia maniera facile per comporre un infinito numero de minuetti e trio anche senza sapere il contrapunto«, und Wolfgang Amadeus Mozart schreibt eine »Anleitung so viel Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componiren so viel man will ohne musikalisch zu seyn noch etwas von der Composition zu verstehen«. Ihnen folgen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche weitere Autoren mit ähnlichen Spielchen. Kirnbergers Beispiel ist das früheste, das bekannt ist.
Natürlich ist das Ganze nicht ernst gemeint, aber dennoch beschreibt es tatsächlich einen Teil der Komponier-Arbeit: Mit dem Wissen um Handwerkliches und der Kenntnis von Mustern kann man auch ohne solche Vorlage schnell ein Menuett oder anderes verfassen, das dann wahrscheinlich sogar ein wenig origineller würde als die Ergebnisse dieses Würfelspiels. Wer ein solches Würfelspiel nicht auch selber entwickeln könnte, kann eben auch nicht komponieren. Ob er, indem er ein solches Spiel verfaßt (oder dafür einen Computer-Algorithmus programmiert), auch als »Komponist« im künstlerischen Sinn gelten kann, ist eine andere Frage. Insofern ist Kirnbergers Spiel durchaus nützlich, nämlich um zum Nachdenken anzuregen darüber, was gutes Komponieren ausmacht und was ein Mozart-Menuett, das nach eben demselben Muster gestrickt sein kann, von Würfel-Menuetten unterscheidet (s. Seite 8 der PDF-Datei). Diese Frage ist alles andere als trivial und alles andere als leicht zu beantworten.