Intonieren Streicher in reiner Stimmung?

Anders als auf dem Klavier, auf dem z.B. ein gis und ein as dieselbe Tonhöhe haben, seien diese Töne bei Streichinstrumenten verschieden hoch, da Streicher nicht in temperierter, sondern in reiner Stimmung intonierten. Diese Behauptung hört man von den Lehrern der Streichinstrumente immer wieder. Stimmt sie wirklich? Um das zu untersuchen, müssen wir zunächst die Begriffe klären:

Reine Stimmung
Musikalisch reine Intervalle haben aus akustisch-physikalischen Gründen sehr einfache Frequenzverhältnisse. So verhalten sich z.B. die Frequenzen zweier Töne, die eine Quinte bilden, wie 2:3, die Frequenzen zweier Töne im Abstand einer Oktave wie 1:2. Intervalle, die von solch einfachen Frequenzverhältnissen abweichen, werden vom Ohr als mehr oder weniger unsauber empfunden. Da das physikalische Gründe hat, orientiert sich unser Gehör immer an diesen reinen Intervallen, und der Geiger, der intonieren übt, wird immer zu diesen einfachen Zusammenklängen finden.

Nun führen akustisch reine Intervalle allerdings in eine Zwickmühle: Sie passen nicht zueinander, weil z.B. drei reine große Terzen oder vier kleine Terzen keine reine Oktave ergeben und drei kleine Terzen keine große Sexte. Dabei ist es völlig gleichgültig, aus welchen kleineren Intervallen man ein größeres zusammensetzt, es paßt nicht ein Intervall in irgendein anderes, und auch die Kombination verschiedener Intervalle funktioniert meistens nicht. Dazu ein Beispiel, das jedem Geiger geläufig ist:

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Hier ergibt die Sexte g-e ein anderes e als die Quarte e-a, letzteres ist deutlich höher zu nehmen.

Dergleichen scheint auf Streichinstrumenten zunächst kein Problem zu sein, da die Tonhöhen ja nicht fest vorgegeben sind und der Spieler sie in Reaktion auf den Gesamtzusammenklang variieren kann. Für das Klavier allerdings würde es bedeuten, daß man für den gleichen Ton mehrere verschiedene Tasten bräuchte, was natürlich völlig unpraktikabel wäre.

Temperierte Stimmung
Nach vielen Bemühungen fand man schließlich zu Johann Sebastian Bachs Zeiten die universelle Lösung des Problems, die sogenannte »Wohltemperierte Stimmung«, in der die 12 Quinten unseres Quintenzirkels um einen kleinen Betrag zu eng gestimmt werden, so daß man durch 12 Quinten genau sieben Oktaven erhält. Damit ist die Stimmung nunmehr eindeutig festgelegt, und alle anderen Intervalle und ihre Abweichungen von der reinen Stimmung ergeben sich daraus.

Die meisten Streicher sind der Meinung, daß die temperierte Stimmung eine Angelegenheit der Tasteninstrumente sei, der sie sich nur anpassen müssen, wenn sie mit dem Klavier zusammen spielen, während Streicher untereinander rein intonieren. Nun ergeben allerdings vier kleine Terzen auch auf der Geige keine Oktave, zwei große keine Sexte usw., so daß sich die Frage stellt, ob die Temperierung nicht ganz allgemein ein Erfordernis unseres enharmonischen Tonsystems ist und nicht nur ein notwendiges Übel der Tasteninstrumente?

Auch Streicher müssen temperieren
Eine einfache Überlegung zeigt nämlich, daß auch ein Streichquartett nicht wirklich rein intonieren kann; es müßte sonst bei folgender Akkordfolge am Schluß einen Achtelton tiefer angekommen sein, als es angefangen hat:

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Nach vier Wiederholungen würde es dann nicht mehr mit einem fis-moll-Akkord beginnen, sondern wäre bereits nach f-moll abgerutscht.

Dagegen mag man einwenden, daß dieses Beispiel etwas weit hergeholt sei. Das Prinzip bleibt dennoch gültig, denn Streichersätze, die den ganzen Tonraum des Quintenzirkels benutzen, gibt es genug. Aber nehmen wir ein einfacheres Beispiel und bleiben wir dabei ruhig in C-dur:

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Unter der Voraussetzung, daß hier sämtliche Akkorde in reiner Stimmung erklingen sollen und daß gemeinsame Töne zweier benachbarter Akkorde dieselbe Tonhöhe behalten sollen, wäre auch hier der abschließende C-dur-Akkord hörbar tiefer als der C-dur-Akkord am Anfang, was sich anhand der Frequenzverhältnisse reiner Intervalle leicht nachrechnen läßt. Das ist übrigens einer der Gründe, weswegen bei unbegleiteter Chormusik die Sänger in der Tonhöhe gern allmählich absacken.

Offensichtlich ist die reine Stimmung also nicht nur auf Tasteninstrumenten völlig unpraktikabel, auch Streicher würden mit ihr jeden Boden unter den Füßen verlieren. Die wirklich reine Stimmung funktioniert einfach nicht, damit muß man sich abfinden wie mit der Tatsache, daß es nun einmal kein Perpetuum mobile geben kann.

Nun ist es allerdings recht schwierig, temperiert zu intonieren, denn unser Gehör strebt immer nach reinen Intervallen, und Klavierstimmer müssen das Temperieren lange üben, bevor sie es sicher beherrschen. Wie kommt es, daß Streicher dann trotzdem die Tonhöhe halten?

Bezugspunkt leere Saiten
Die Erklärung ist einfach: Sie spielen nicht wirklich rein, sondern orientieren sich an den Tonhöhen der leeren Saiten und deren Resonanzen. Wo sie davon zu sehr abweichen müßten, gleichen sie das automatisch aus, indem auch sie irgendwie temperieren.

Schon die Stimmung einer Geige in reinen Quinten führt nämlich zur Unreinheit, denn die Tonfolge g-d-a-e ergibt eine (oktavierte) Sexte g-e, die zu groß ist:

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(Fügt man dem noch eine weitere Quinte hinzu, stimmt also g-d-a-e-h rein, erhält man eine unreine Oktav-Dezime g-h, deren Fehler schon den alten Griechen bekannt war und syntonisches Komma genannt wird.)

Das hat zur Folge, daß zahlreiche Zusammenklänge auch auf der Geige nur temperiert spielbar sind. Im folgenden e-moll-Akkord z.B. sieht sich der Geiger vor die Wahl gestellt, den ersten Finger als Sexte zum g zu hoch oder als Quarte zum e2 zu tief zu nehmen:

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Ähnliches gilt für folgenden C-dur-Akkord, wo zweiter und dritter Finger entweder zu hoch im Verhältnis zur g-Saite oder zu tief im Verhältnis zur e-Saite werden:

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Auch Geiger müssen also Kompromisse finden und Fehler verteilen. (Würden sie wirklich rein intonieren, dürften sie in C-dur nie die leere e-Saite benutzen.)

Aber man muß, um das zu belegen, noch nicht einmal die Stimmung der Geige bemühen, die zu der unreinen Sexte g-e führt, man kann es auch anders verdeutlichen:
Nehmen wir an, ein Streich-Ensemble hätte den Akkord d-fis-ais zu spielen:

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Die Töne d-fis lassen sich als reine Durterz intonieren, z.B. indem das Cello das d spielt, die Bratsche das reine fis dazu. Aber was macht nun der Geiger mit dem ais? Intoniert er rein, indem er eine reine Durterz zum fis spielt oder indem er eine reine Sexte (d-ais = d-b) zum d spielt? Beides zugleich geht nämlich nicht: Die Durterz hat ein Frequenzverhältnis von 4:5, die kleine Sexte ein Frequenzverhältnis von 5:8, und zwei Durterzen ergeben in dieser unserer Welt keine kleine Sexte, weil 4/5 x 4/5 ungleich 5:8 ist. Also bleibt auch dem Geiger nichts anderes übrig, als irgendwo die Mitte zwischen beiden Intervallen zu finden und zu temperieren.

Bei Quinten ist der Unterschied zwischen rein und temperiert übrigens fast vernachlässigbar. Soll etwa der vierte Finger die Quinte zur leeren Saiten greifen, so liegt die Differenz bei zwei Zehntelmillimetern, die die Griffstellen voneinander abweichen, was sich kaum noch durch Verschieben des Fingers korrigieren läßt, sondern allenfalls durch leichtes Abrollen der Fingerkuppe. Das erklärt auch, warum die Quinten der leeren Saiten ganz gut mit den Tönen des Klaviers zusammenpassen. Allerdings empfiehlt es sich trotzdem beim Zusammenspiel mit dem Klavier, die Geige nach den Klaviertönen einzustimmen, weil es in Klavierstimmungen oft Unregelmäßigkeiten gibt, die nicht unbedingt ein Zeichen dafür sein müssen, daß das Klavier schlecht gestimmt wurde, sondern einen physikalischen Grund haben können: die Inharmonizität des Obertonspektrums (die Obertöne sind unrein). Diese Inharmonizität hat zur Folge, daß alle Tonabstände geringfügig größer werden, so daß im Mittel die temperierten Klavierquinten sich den reinen Quinten der Geigensaiten annähern. Beim Cello sieht das etwas anders aus, hier erlebt man oft, daß die tiefe C-Saite mit dem Klavier schlecht übereinstimmt, weil die Inharmonizität im Baß merklich größer und unregelmäßiger wird.

Intonation und Enharmonik
Fragt man Geiger, ob auf ihrem Instrument das dis oder das es höher sei, so antworten die meisten – und viele mit großer Überzeugtheit – das dis sei höher. Ob das stimmt, hängt natürlich davon ab, von welchen Zusammenklängen man die Tonhöhen ableitet. Aber geht man davon aus, daß die leeren Saiten die Bezugspunkte bilden (andere Bezugspunkte hat der Geiger ja gar nicht), so könnte man sie so ableiten:

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Unter Berücksichtigung der Frequenzverhältnisse der leeren Saiten errechnet man dabei das Gegenteil von dem, was die meisten Geiger glauben: Nicht das dis, sondern das es ist höher. Irgend jemand muß die falsche Regel wohl einmal in die Welt gesetzt und genügend Nachplapperer gefunden haben.

Allerdings gibt es noch eine andere Regel, mit der oft erklärt wird, warum dis und es verschiedene Töne sind: Leittöne aufwärts würden höher intoniert, deswegen sei das dis als Leitton zum e auf der Geige ein anderes als auf dem Klavier. Nun sind Leittöne aufwärts ja meistens die Durterz der Dominante, und reine Durterzen sind hörbar tiefer als temperierte. Wenn es also stimmt, daß Streicher Leittöne höher intonieren, dann heißt das nichts anderes, als daß sie sie eher genauso hoch wie auf dem Klavier nehmen und das dis eher derselbe Ton wird wie das es.

Darüber läßt sich lange streiten, weil es schwer nachzumessen ist. Aber es gibt auch eindeutige Fälle, wo enharmonische Verwechslungen mit Sicherheit auch auf der Geige keine unterschiedliche Intonation zulassen. Man betrachte das des und das cis in folgendem Beispiel:

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Jeder Geiger wird hier in beiden Fällen bemüht sein, ein sauberes Intervall des-e, bzw. cis-e zu spielen, also beide Male dieselbe kleine Terz. Das gilt genauso für die große Terz as-c, bzw. gis-c im folgenden:

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Enharmonische Fingersätze
Eine weitere Regel ist vielleicht nicht mehr ganz so verbreitet, weil sich die meisten Geiger zu »modernen« Fingersätzen weitgehend durchgerungen haben. Aber gänzlich auszurotten scheint sie nicht zu sein: Da ein gis kein as ist – so sagt mancher Lehrer seinem Schüler – muß z.B. das gis auf der d-Saite mit dem dritten und darf nicht mit dem vierten Finger gespielt werden. Daß diese Regel grober Unfug ist, ergibt sich schon allein daraus, daß es dann die »halbe Lage« gar nicht geben dürfte und auf der d-Saite der erste Finger nicht zum dis hinunterrutschen, sondern irgendein imaginärer nullter Finger vom d zum dis hinaufrutschen müßte.

Die Wahrheit ist natürlich, daß enharmonische Fingersätze mit Intonation herzlich wenig zu tun haben, sondern nur mit Bequemlichkeit und Sicherheit. Es kann z.B. wesentlich sicherer sein, so zu spielen:

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anstatt mit dem ersten Finger zum dis zu rutschen, denn hier kann der erste Finger zur Orientierung stehen bleiben und die Hand muß die Lage nicht verlassen. Fingersätze haben nur insofern etwas mit Intonation zu tun, als der bequemere Fingersatz auch immer leichter zu intonieren sein wird:

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Hier wird wohl nur ein Dummkopf den dritten Finger nehmen, während bei der folgenden Stelle auch manch Klügerer brav in Gis-dur bleibt, anstatt den viel geläufigeren As-dur-Fingersatz zu nehmen:

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Fazit
Die reine Stimmung bleibt offensichtlich ein Theoretikum, auch wenn sich das Gehör immer an reinen Intervallen orientiert. Der Bezug zu den leeren Saiten bleibt dabei aber stets erhalten, so daß ein Streicher oft irgendwie temperieren muß, wenn er nicht jeden Bezug verlieren will; er wird das nur etwas ungleichmäßiger tun, als es die völlig gleichmäßige Temperierung des Klaviers verlangt.

Feststehende Regeln machen dabei wenig Sinn, denn sie stimmen oft nur halb oder gar nicht. Intonieren bedeutet immer Reaktion auf den Gesamtzusammenklang, und das gilt sogar für das unbegleitete Solospiel, bei dem ein Geiger sich stets an die Resonanz der leeren Saiten hält, d.h. richtig erscheinen ihm die Tonhöhen, die auf den Nachbarsaiten Resonanz haben, und ob die in reiner Stimmung je nach Zusammenhang etwas tiefer oder höher sein müßten, darüber wird er sich kaum je Gedanken machen. Die einzige Regel, die ohne Ausnahme gilt, ist: Gut ist, was gut klingt.

Im übrigen ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten, daß schlechte Intonation mit rein oder temperiert herzlich wenig zu tun hat, sondern die Abweichungen bei unsauberem Spiel deutlich größer sind als die Unterschiede zwischen den beiden Stimmungsarten. Dafür gibt es einen überzeugenden Beleg:

Streicherklänge elektronischer Keyboards, die temperiert gestimmt sind, klingen zwar schrecklich, aber keineswegs unsauber, obwohl sie meist Klänge natürlicher Streichinstrumente benutzen (sogenannte »Samples«, die – per Mikrofon aufgenommen und elektronisch abgespeichert – auf Tastendruck abgespielt werden). Die temperierte Stimmung dieser Keyboards ist jedenfalls in der Regel um einiges besser als die reine Stimmung eines Schülerorchesters.



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