Quodlibet
– Variationen über einen Passacaglia-Baß von J. S. Bach
Gesprächsbeitrag aus einem Konzert
Ferrucio Busoni hat einst gesagt, daß Komponieren als solches bereits eine »Bearbeitung« sei, denn wenn der Komponist das Werk erst einmal aufgezeichnet hat, hat er sich lediglich für eine von vielen denkbaren Fassungen entschieden. Wie Johann Sebastian Bach diese »Bearbeitung« des musikalischen Materials vornimmt, wie er es arrangiert, kombiniert, ausschmückt und wie man eine von vielen denkbaren Fassungen gewinnen kann, dabei wollen wir dem Komponisten einmal über die Schulter schauen:
Wie komponierte man im Barock? Eine viel geübte Möglichkeit war, vom Baß auszugehen, d.h. eine Baßlinie zu schreiben, die nur ein paar Takte lang, in der Regel vier oder acht, zu sein brauchte und gar nicht sonderlich originell sein mußte. Bach hat zwei seiner berühmtesten Werke geschrieben, indem er eine solche Baßlinie endlos wiederholte und sie jedes Mal anders ausschmückte, nämlich die Chaconne für Solo-Violine und die c-moll-Passacaglia für Orgel.
Eine weit verbreitete Allerwelts-Baßformeln ist z.B. die folgende:
Zahlreiche Komponisten des Barocks haben sie benutzt, es ist nur eine Floskel, für die keiner Urheberrechte beanspruchen konnte, so wenig, wie jemand behaupten kann, er hätte die C-dur-Tonleiter erfunden.
Wie schmückt man solch simples Material nun aus? Man legt zunächst ein paar Harmonien darüber:
Das ist noch kein Musikstück, aber wenn man den Baß erweitert, der ersten Gedichtzeile also sozusagen noch eine zweite anfügt, der zweiten eine dritte usw., bis man eine ganze Strophe zusammenhat, wobei man lediglich einem gängigen Schema folgen muß, so hat man bereits ein Präludium komponiert, und das klingt dann so:
Was wir da gehört haben – eine Baßlinie mit ein paar Harmonien darüber –, ist das Gerüst, das Bach für eine Aria verwendet hat. Man kann dieses Gerüst nämlich noch weiter bearbeiten, indem man z.B. eine Melodie darüberlegt. Wie das in einfacher Form klingt, hören wir im folgenden Stück, in dem Baß und Harmonien genau dieselben sind wie in dem eben gehörten Präludium, auch wenn es ein wenig anders klingt, weil die Taktart eine andere ist, wodurch das Stück sogar noch ein bißchen länger wird:
Wir würden Bach nicht als einen der größten Komponisten des Abendlandes schätzen, wenn er uns die Aria in dieser simplen Form hinterlassen hätte. Im Bachschen Original sieht sie ein bißchen anders aus, dort klingen Baß und Harmonien nämlich so:
Und mit der Melodie in der rechten Hand würde es sich dann so anhören:
Bachs Satz ist jedoch noch wesentlich raffinierter, die Melodie ist äußerst kunstvoll ausgeziert, der Baß differenziert abgewandelt, und die Harmonien sind subtiler gesetzt, nicht um der Kunstfertigkeit willen, sondern um daraus ein musikalisch stimmiges, interessantes Ganzes entstehen zu lassen.
Das Stück ist für Klavier solo geschrieben und findet sich zum ersten Mal im Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. Es ist ein sehr ruhiges Stück im Dreiertakt, nämlich eine Sarabande. Die Sarabande hat eine bemerkenswerte Geschichte: Sie ist ein Tanz, der aus Spanien stammt und im 16. Jahrhundert bei Todesstrafe verboten war, weil er als lasziv und allzu sinnlich galt, er war also sozusagen der Tango des 16. Jahrhunderts. Bach hatte sich allerdings für seine Sarabanden nicht mehr vor der Inquisition zu verantworten, die Sarabande hatte sich mittlerweile sehr zum Edlen und Ausdrucksvollen geläutert. Als tänzerisch wird man das folgende Stück wohl auch kaum noch empfinden können:
Bach hat später diese Aria noch weiter »bearbeitet«, nämlich darüber Variationen geschrieben, 30 an der Zahl, und das wurde sein längstes und virtuosestes Klavierwerk; es heißt »Goldberg-Variationen« und hat etwas mit Schlaflosigkeit zu tun:
In Dresden gab es einen Grafen namens Keyserling, der eben darunter litt. Damals konnte man, wenn man nicht einschlafen konnte, nicht den Fernseher oder das Radio einschalten, um sich die Zeit zu vertreiben, aber wenn man Graf war und es sich leisten konnte, dann konnte man seinen Hoforganisten wecken, damit er einem etwas vorspiele. Für genau diesen Zweck hat Bach diese Variationen geschrieben; und da der Cembalist des Grafen Keyserling Goldberg hieß, heißen sie »Goldberg-Variationen«.
Nun wollen wir Ihnen allerdings nicht zeigen, wie vielfältig man ein Thema bearbeiten kann, und Ihnen alle 30 Variationen vorspielen, denn dann würde dieses Konzert doch etwas arg lang, sondern wir begnügen uns mit der letzten Variation. In die flicht Bach zwei alte Handwerkerlieder ein. In dem einen ist die Rede davon, daß der Handwerksbursche weitergezogen ist, weil die Meisterin ihm immer nur Kraut und Rüben aufgetischt hat: »Kraut und Rüben haben mich vertrieben.«
In dem zweiten freut sich der Handwerksbursche über ein Wiedersehen und singt »Ich bin so lang net bei dir g’west, ruck, ruck, mein Mädel ruck«:
Beides kann man durchaus auf die Goldberg-Variationen beziehen, und vielleicht hat Bach sein eigenes Werk damit ironisieren wollen, denn die pianistischen und polyphonen Kunststücke haben die ursprüngliche Aria tatsächlich ziemlich vertrieben, obwohl das harmonische Gerüst im Prinzip immer dasselbe bleibt; und es gibt zum Schluß ein Wiedersehen, oder besser: Wiederhören, denn die Aria wird am Ende noch einmal in ihrer ursprünglichen Form gespielt.
Hören wir zunächst, wie die beiden Handwerkerlieder ungefähr geklungen haben könnten, allerdings in einer recht stilisierten Bearbeitung, die sich eher an die Sprache Bachs anlehnt als an die Volksmusik:
Bach hat die letzte der 30 Goldberg-Variationen, in die er diese beiden Lieder eingeflochten hat, als Quodlibet bezeichnet – nicht, weil es in einem der Handwerkerlieder heißen würde: »Komm mit in mein Quodli-Bett«, sondern quod líbet ist lateinisch und heißt »Was beliebt«, denn in einem Quodlibet singt man mehrere beliebige Melodien gleichzeitig. Das funktioniert natürlich nicht mit allen Liedern, aber es ginge zumindest in den ersten Takten auch mit »Hänschen klein« und »Alle meine Entchen«:
Aber wenn man alles nur genügend abwandelt, dann geht es eigentlich immer. Z.B. kann man »Kraut und Rüben« mit dem Baß der Aria kombinieren:
Mit etwas Geschick geht das sogar als Kanon:
Man kann aber auch »Ich bin so lang net bei dir g’west« mit dem Baß der Aria kombinieren:
Und auch das geht als Kanon:
Und wenn sich das eine und das andere kombinieren läßt, dann natürlich auch beides zusammen:
Und wenn das eine als Kanon geht und das andere, dann geht natürlich auch beides zusammen als Kanon:
Wie Bach das in der letzten Goldberg-Variation gemacht hat, hören wir nun in einer Bearbeitung für Klarinette, Viola und Klavier. Versuchen Sie nicht, den ursprünglichen Baß zu verfolgen, sie werden doch den Faden verlieren; versuchen Sie nicht abzuzählen, wie oft das eine oder das andere Lied erscheint, sie werden sich doch verzählen; bewundern Sie mit uns einfach nur das kombinatorische Geschick des Herrn Bach, dessen Geheimnis schlicht darin liegt, daß er sein Handwerk so souverän beherrschte, daß er sich damit nicht plagen mußte, sondern immer die Wirkung und den Ausdruck seiner Musik im Auge behalten konnte. Er hat so etwas nämlich nicht stundenlang mühsam am Schreibtisch konstruieren müssen, er hat es notfalls – das ist überliefert – auch schnell mal eben an der Orgel oder am Cembalo improvisiert: