Inharmonizität
Das inharmonische Teiltonspektrum von Saiten und seine Konsequenzen für Klang und Klavierstimmung
PDF-Version unter
Fachwissen/Downloads
Saitensteifigkeit
Inharmonizität
Inharmonische Differenztöne
Inharmonische »reine« Intervalle
Inharmonische temperierte Intervalle
Streckung der Stimmung
Konsequenzen der Inharmonizität in der Praxis
Saitensteifigkeit
Die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Anzahl der Saitenschwingungen sollen bereits der französische Mönch Mersenne (1588-1648) und 1638 Galileo Galilei erkannt haben. Eindeutig quantifiziert hat dies 1716 der englische Mathematiker Brook Taylor, der eine Formel zur Berechnung der Schwingungszahl einer Saite fand:
Vereinfacht drückt die Formel folgendes aus:
– je länger eine Saite, umso tiefer der Ton;
– je dicker eine Saite, umso tiefer der Ton;
– je höher die Saitenspannung, umso höher der Ton.
Irgendetwas kann an der Taylorschen Formel aber nicht stimmen, denn sonst könnte man eine Saite beliebig dick machen, um einen beliebig tiefen Ton zu erhalten. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine Saite, die so zu einem fingerdicken Stahlstab entartete, keinen satten Baßton von sich gäbe, sondern nur ein läppisches »pling«. Offensichtlich fehlt in der Taylorschen Formel ein wichtiger Parameter, nämlich die Steifigkeit einer Saite, die umso größer wird, je kürzer die Saite im Verhältnis zur ihrem Durchmesser ist. Dadurch steigt die Frequenz gegenüber der Taylorschen Formel an.
In der Praxis kann man dies bei Saitenberechnungen meist vernachlässigen und kommt mit der Taylorschen Formel aus. Bei den hohen Saitenspannungen des Klaviers aber hat die Saitensteifigkeit entscheidende Auswirkungen: Sie verändert die Frequenzen der Teiltöne.
Inharmonizität
Teiltöne entstehen dadurch, daß die Saite nicht nur als ganzes, sondern auch in Teilen schwingt, nämlich beim zweiten Teilton in zwei halben Saitenlängen, beim dritten in drei Dritteln usw. Je kürzer jedoch ein Saitenabschnitt ist, umso steifer wird er, und die Frequenz des Teiltons steigt an, und zwar umso mehr, je höher er liegt: Der zweite Teilton weicht deutlicher ab als der erste, der dritte deutlicher als der zweite, der vierte deutlicher als der dritte usw., die Abweichung nimmt mit zunehmender Teilton-Nummer exponentiell zu.
Damit ändern sich die Frequenzverhältnisse, denn nun hat der zweite Teilton mehr als die doppelte Grundfrequenz, der dritte mehr als die dreifache, der vierte mehr als die vierfache, und die schönen einfachen harmonischen Zahlenverhältnisse stimmen nicht mehr, das Obertonspektrum der Klaviersaiten ist unharmonisch, also gewissermaßen verstimmt.
Da die Saitensteifigkeit anwächst, je dicker oder je kürzer eine Saite ist, ist die Inharmonizität bei den kurzen Diskantsaiten und den dicken Baßsaiten am größten, in der Mittellage am geringsten. Eine typische Inharmonizitätskurve sieht deswegen so aus:
Hier sind von links nach rechts die Töne vom Baß bis zum Diskant aufgezeichnet und die Abweichungen der Teiltöne vom theoretisch-harmonischen Wert, und zwar vom zweiten bis zum achten Teilton. Aufgrund der Saitensteifigkeit verändert sich zwar eigentlich auch die Frequenz des ersten Teiltons (des Grundtons), aber der liegt hier immer auf der Null-Linie, denn dargestellt sind hier nicht die absoluten Tonhöhen, sondern die Abweichungen im Verhältnis zur Grundfrequenz.
In dieser Kurve ist eine wesentliche Eigenschaft der Inharmonizität deutlich erkennbar: Sie verläuft immer ungleichmäßig. Das liegt zum einen daran, daß dem Klavierbauer nicht beliebig viele Saitendurchmesser zur Verfügung stehen und Unstetigkeiten deswegen unvermeidbar sind, zum anderen auch an einigen Zufälligkeiten wie evtl. Verformungen von Saiten an ihren Auflagepunkten und Ungleichmäßigkeiten der Saiten-Umspinnungen. Daß letzteres eine große Rolle spielt, ist eindeutig daran erkennbar, daß die Inharmonizität bei den umsponnenen Baßsaiten am unregelmäßigsten ist.
Inharmonische Differenztöne
Zwischen den Teiltönen einer Obertonreihe entstehen Differenztöne. Diese sind bei harmonischen Frequenzverhältnissen mit den Teiltönen identisch, z.B. ergibt sich aus dem 2. und 3. Teilton der Differenzton
Nehmen wir an, die Teiltöne des Tons a (220 Hz) hätten folgende Abweichungen:
3. Teilton: 3,0069 x 220 Hz (statt 3,0000 x 220 Hz)
2. Teilton: 2,0024 x 220 Hz (statt 2,0000 x 220 Hz)
1. Teilton: 1,0000 x 220 Hz
Wie man leicht errechnen kann, hat jetzt der Differenzton
Inharmonische »reine« Intervalle
Teiltonreihen, die im Abstand einer Oktave stehen, haben folgende gemeinsame Teiltöne:
Ist das Intervall rein, sind die gemeinsamen Töne gleich hoch und schwebungsfrei. Diese Regel gilt aber nur für harmonische Teiltonreihen, die Inharmonizität macht sie zunichte! Hierzu ein konkretes Beispiel (Messungen an einem Kleinklavier, Frequenz
e | e' | Schwebung |
6,0349 - | 6,0104 | |
5,0203 | ||
4,0093 - | 4,0046 | 0,8 Hz |
3,0052 | ||
2,0023 - | 2,0023 | 0,0 Hz |
1,0000 |
Ton 2 ist schwebungsfrei, Ton 4 und 6 sind es jedoch nicht. Würde man die Oktave so einstimmen, daß Ton 4 schwebungsfrei wäre, so würde Ton 2 schweben. Wie auch immer man also die Oktave einstimmt, sie kann nie schwebungsfrei werden.
Je nach Grad der Inharmonizität und je nach Intensität einzelner Teiltöne ist das durchaus hörbar. Es hat eine weitreichende Konsequenz: Bei inharmonischen Teiltönen ist nicht mehr definierbar, was denn nun ein reines Intervall ist.
Messungen der Arbeit guter Konzertstimmer zeigen, daß Oktaven dann optimal klingen, wenn in der Regel keine der gemeinsamen Teiltöne gleich hoch sind. Hört man analytisch auf einzelne Teiltöne solcher Oktaven, sind immer einige Schwebungen auszumachen, insgesamt aber wirken diese Oktaven durchaus rein. Es ist also anzunehmen, daß nicht nur Teiltöne zu betrachten sind, sondern auch sämtliche Interferenzen, was die ganze Angelegenheit äußerst komplex macht. Deswegen hat bisher niemand eine Möglichkeit gefunden, anhand des Obertonspektrums, das man ja problemlos messen kann, die Frequenzen reiner Intervalle zu berechnen. Es kann nur vom Ohr entschieden werden.
Inharmonische temperierte Intervalle
Quarte und Quinte ergeben zusammen eine Oktave:
In der temperierten Stimmung müßte die Quarte dabei dieselbe Schwebungszahl haben wie die Quinte, denn die temperierte Quarte wird um dasselbe Maß zu groß, um das die temperierte Quinte zu klein wird. Außerdem soll die Oktave rein, also schwebungsfrei, sein. Bei inharmonischen Teiltönen läßt sich keine dieser Forderungen erfüllen! Alle Teilton-Frequenzen weichen nämlich in unterschiedlichem Maße vom harmonischen Wert ab, und damit lassen sich temperierte Intervalle nicht mehr »unter einen Hut bringen«.
Dies bedeutet auch, daß die Schwebungszahlen der temperierten Stimmung, nach denen sich der Stimmer richtet, allenfalls nur noch annähernd gelten. Wenn der Stimmer trotzdem gute Ergebnisse erreicht, dann deshalb, weil er Fehler ausgleicht, indem er auf möglichst gleichmäßige Verteilung auf den Quintenzirkel achtet und die Schwebungen sowieso nur abschätzt und nicht genauestens mißt, schließlich hat man Klaviere auch schon gestimmt, als man von Inharmonizitäten noch gar nichts wußte.
In der Praxis macht darum dem Stimmer die Inharmonizität nur dort Kopfzerbrechen, wo sie sehr hoch und sehr unregelmäßig ist und auch das Ohr kein zufriedenstellendes Intervall mehr findet. Das kann vor allem in den Randlagen und bei einzelnen fehlerhaften Saiten der Fall sein.
Streckung der Stimmung
Die Inharmonizität hat zur Folge, daß alle Intervalle weiter werden. So sind z.B. die Oktaven der Mittellage meist um ca. 2 Cent zu groß zu nehmen, damit sie befriedigend klingen, in den Randlagen deutlich mehr. Deswegen ist eine gut klingende Klavierstimmung »gestreckt«, d.h. die tiefsten Töne können bis zu 30 Cent zu tief, die höchsten bis zu 30 Cent zu hoch werden, und eine Klavierstimmung sieht immer ähnlich aus wie folgendes konkretes Beispiel:
Konsequenzen der Inharmonizität in der Praxis
In einem Zeitschriften-Artikel las ich einst, daß es eine theoretisch richtige und eine musikalisch richtige Stimmung gebe, deswegen sei das Stimmen nach Stimmgeräten immer unzufriedenstellend. Die Wahrheit ist: Es gibt gar keine theoretische Stimmung, denn bisher kann niemand anhand des Obertonspektrums die optimale Temperierung berechnen, das Klanggemisch aus Teiltönen und Interferenzen ist zu komplex, um einfache Regeln aufzustellen. Darum kann ein Stimmgerät auch lediglich anzeigen, wie hoch ein Ton ist, und nicht, wie hoch er sein sollte, das kann nur das Ohr entscheiden.
Es gibt Stimmgeräte, die die Streckung der Stimmung wenigstens mit einem Durchschnittswert berücksichtigen und die Einstellung unterschiedlicher Stimmungen erlauben, vom Kleinklavier (sehr große Inharmonizität) bis zum Konzertflügel (geringere Inharmonizität). Das liefert zwar erträglichere Ergebnisse als keinerlei Streckung, löst aber das Problem nicht, denn Unregelmäßigkeiten müssen zwangsläufig unberücksichtigt bleiben.
Bisweilen wird gesagt, daß zumindest das Temperieren einer Oktave der Mittellage mit dem Stimmgerät möglich sei. Betrachtet man jedoch Messungen guter Konzertstimmungen, so trifft man auch in der Mittellage kaum je auf einen regelmäßigen Bereich, wie sich aus Abb. 2 ersehen läßt, deren Unregelmäßigkeiten keineswegs Fehler aufgrund des unzulänglichen Gehörs des Stimmers sind, sondern Notwendigkeiten aufgrund unregelmäßiger Inharmonizitätswerte. Kein Stimmgerät kann diese berücksichtigen, denn dazu müßte man erst einmal das Obertonspektrum analysieren, und man müßte einen zuverlässigen Algorithmus kennen, um daraus die Stimmung zu berechnen.
Dies hätte für jedes einzelne Klavier gesondert zu geschehen, d.h. auch gleiche Klaviermodelle sind nie vollkommen gleich. Um Stimmschwierigkeiten gering zu halten, wählt man für Konzerte auf zwei Klavieren zwar immer zwei gleichgroße Instrumente desselben Herstellers, aber trotzdem bleibt das Zusammenstimmen zweier Klaviere für den Techniker immer eine heikle Aufgabe, bei der er sich bisweilen nach der Decke strecken muß. Mehr als zwei Instrumente in Einklang zu bringen, ist fast unmöglich, deswegen klingen Besetzungen mit mehreren, selbst hochwertigen Flügeln, meist wie ein miserables Kleinklavier.
Übrigens besteht ein nicht zu unterschätzender Zusammenhang zwischen der Qualität einer Stimmung und der Intonation: Wenn die Hämmer nicht mehr in optimalem Zustand sind, wird der Klang nicht nur geräuschvoller, er wird auch obertonreicher, wodurch Stimmungsmängel und die Charakteristiken der Inharmonizität wesentlich deutlicher zutage treten.
Aber nicht nur abgespielte Hämmer verschlechtern den Stimmeindruck, auch die Saiten altern. Der Hauptgrund dafür dürfte in Deformationen an den Auflagepunkten liegen (manchmal muß man bei Flügeln die Duplex-Enden, die eigentlich mitklingen und zur Brillanz beitragen sollen, abdämpfen, weil sie mit der Zeit anfangen zu klirren). Diese Alterung ist meßbar; hier die Kurve eines recht neuen Flügels und desselben Instruments einige Jahre später:
Wie komplex das ganze Thema ist, kann man aus folgender Grafik ersehen, die das Frequenzspektrum der temperierten Quinte c'-g' darstellt. Jeder waagerechte Balken bedeutet hier einen Ton, es handelt sich um Teiltöne des c', Teiltöne des g' und Differenztöne zwischen Teiltönen, spaltenweise geordnet nach Tonhöhen. Die Höhenlage der Balken gibt ihre Abweichung vom harmonischen Wert in Cent an. Bei harmonischen Teiltonreihen müßten alle Balken auf gleicher Höhe liegen, bei inharmonischen aber hat man es mit einer Vielzahl unterschiedlicher Interferenzen zu tun, die schwer zu analysieren ist.
2012 hat sich ein Wissenschaftler des Problems angenommen und eine vielleicht brauchbare Lösung gefunden, die auf statistischen Methoden beruht. Haye Hinrichsen, Professor für Physik in Würzburg, wies nach, daß man durch Messung der Entropie (ein Maß für die Unordnung eines Systems) und ihre Minimierung ähnliche Stimmergebnisse bekommt wie ein Stimmer, der nach Gehör stimmt. Er schreibt:
Da das Stimmen eines Instruments als Suche nach dem bestmöglichen Kompromiss für die Übereinstimmung von Obertönen verstanden werden kann, liegt die Vermutung nahe, dass solch ein Kompromiss durch eine minimale Entropie des Leistungsspektrums charakterisiert wird. Dies ist äußerst plausibel, da zwei überlappende Spektrallinien naturgemäß eine geringere Entropie aufweisen als zwei getrennte Linien.
(www.physik.uni-wuerzburg.de/~hinrichsen/research/entropy/tuning/deutsch.pdf – April 2012)
Sein Algorithmus ist aber noch nicht hinreichend untersucht, denn Hinrichsen wandte ihn nur auf das Klangspektrum eines einzigen Klaviers an. Ob die Methode praktikabel ist, wird sich wohl erst erweisen, wenn andere sich ihrer annehmen, denn Hinrichsen forscht hierüber nicht weiter. Sollte ihre Anwendung aber einmal Erfolg haben, wird sie Berufsstimmer nicht überflüssig machen, denn dem Laien, der selber stimmen möchte, nützt die Stimmungsberechnung herzlich wenig, wenn er den Stimmvorgang nicht auch handwerklich beherrscht. Warum die handwerkliche Beherrschung nicht trivial ist, kann man hier nachlesen:
Praxis des Klavierstimmens