Praxis des Klavierstimmens
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Vorbemerkung
Während Geiger, Gitarristen oder andere Spieler von Saiteninstrumenten schnell lernen, ihr Instrument selber zu stimmen, ist dies den Klavierspielern in der Regel versagt. Das hat vor allem drei Gründe:
Von diesen Schwierigkeiten unterschätzt man das Handwerkliche wohl am meisten. Tatsächlich muß man sagen, daß die handwerkliche Beherrschung Grundvoraussetzung ist, selbst wenn man nur gelegentlich einmal eine einzelne Saite nachstimmen möchte, bevor der Klaviertechniker wieder ins Haus kommt. Die Kenntnis der mechanischen Vorgänge des Stimmens ist dazu unabdingbar.
Saitenanlage
Je nach Modell und Tonlage kann die Saitenbefestigung verschieden gestaltet sein. So kann sie im Diskant des Flügels z.B. so aussehen:
Im Diskant des Klaviers sieht es am Wirbelende ein wenig anders aus, aber das Prinzip ist ähnlich:
Die Saite macht an allen Berührungspunkten einen Knick (s. Pfeile), so daß sie dort fest anliegt und Druck ausübt. Wie weit sie abknickt und wie hoch der Druck ist, hat Einfluß sowohl auf den Klang als auch auf die Stimmbarkeit, da hier beim Stimmen Reibung zu überwinden ist. Klangentscheidend ist vor allem der Druck auf den Resonanzbodensteg; dort aber resultiert die Reibung nicht in erster Linie aus dem Stegdruck, sondern aus den Abknickwinkeln an den Stegstiften, und sie ist dort so hoch, daß sich die Spannung am hinteren Saitenende beim Stimmen überhaupt nicht verändert.
Am vorderen Ende hat die Reibung zwei Effekte: Einerseits erschwert sie das Stimmen, da zusätzliche Widerstände zu überwinden sind, andererseits verbessert sie die Stimmhaltung, da sie verhindert, daß die Saite allzu leicht von alleine wieder über die Auflagepunkte rutscht.
Ebenfalls Einfluß auf das Verhalten der Saite beim Stimmen und auf die Stimmhaltung hat das Längenverhältnis zwischen dem vorderen toten und dem klingenden Saitenende. Lange tote Enden benötigen mehr Dehnungslänge, d.h. es muß mehr Saitenlänge auf den Wirbel aufgewickelt werden, bevor die Tonhöhe ansteigt, während kurze Enden spürbar schneller auf die Stimmbewegungen reagieren.
Die Dehnungslängen von Klaviersaiten sind äußerst gering. Um z.B. die Tonhöhe in der zweigestrichenen Oktave um 1 Cent ansteigen zu lassen, genügt es, so wenig Saitenlänge auf den Wirbel aufzuwickeln, daß die Bewegung des Stimmhammergriffs in der Größenordnung von 1/10 mm liegt. Handwerklich ist darum das Stimmen der langen Baßsaiten, die mehr Dehnungslänge benötigen, einfacher.
Spannungsverhältnisse
Um zu betrachten, was beim Stimmen passiert, vereinfachen und schematisieren wir die Saitenanordnung und nehmen willkürlich einmal folgende Spannungswerte an, nachdem die Saite höher gestimmt wurde:
Die Spannungsdifferenz zwischen beiden Saitenabschnitten kommt dadurch zustande, daß die Reibung ja erst einmal überwunden, das vordere (»tote«, nicht schwingende) Saitenende also entsprechend vorgespannt werden muß. Ob die hier willkürlich angenommenen Werte den tatsächlichen entsprechen, ist für unsere Überlegungen nicht erheblich, wichtig ist nur, daß das vordere Ende, nachdem die Saite hochgezogen wurde, mehr Spannung hat als das hintere.
Läßt man die Saite herab, verringert also die Tonhöhe, ist es genau umgekehrt:
Jetzt hat das vordere Ende weniger Spannung, denn es mußte ja so weit herabgelassen werden, daß der Spannungsüberschuß der klingenden Länge ausreicht, die Seite über den Steg rutschen zu lassen.
Je nachdem, ob man abwärts oder aufwärts stimmt, findet man also andere Spannungsverhältnisse vor, die für die Stimmhaltung bedeuten: Eine herab-gelassene Saite kann sich schneller nach unten verstimmen, eine hochgezogene schneller nach oben, weil in beiden Fällen die Enden so vorgespannt sind, daß der Reibungswiderstand in die jeweilige Richtung schneller überwunden ist.
In der Realität ist aber alles noch ein wenig komplizierter, denn man hat zusätzlich die Eigenschaften des Wirbels zu betrachten.
Biegsamkeit des Wirbels
Abgesehen davon, daß es recht schwierig ist und längerer Übung bedarf, den Wirbel auf Anhieb um das richtige Maß zu drehen, hat man mit einem lästigen Effekt zu kämpfen: Der Wirbel federt.
Obwohl er ein ca. 7 mm dicker Stahlstift ist, ist seine Elastizität spürbar, außerdem natürlich auch die Elastizität des Stimmstockholzes, in dem er befestigt ist. Dies ermöglicht es, daß man stimmen kann, ohne den Wirbel überhaupt im Holz zu drehen, man biegt ihn einfach in die gewünschte Richtung, und die Saite bleibt ein kurze Zeit lang auf der Tonhöhe stehen, weil sie durch Reibung fixiert wird. Nach dem Absetzen des Stimmhammers federt der Wirbel allerdings wieder zurück:
Eine solcherart hingebogene Stimmung kann nie halten, denn man hat dabei die Gesamt-Saitenspannung gar nicht verändert, sondern nur umverteilt, und zwar so, daß die Spannungsdifferenz jetzt die Rückkehr in den alten Zustand unterstützt, d.h. in diese Richtung den Reibungswiderstand erniedrigt.
Torsion des Wirbels
Inwieweit man das Biegen vermeiden kann, ist u.a. von der Geschicklichkeit abhängig. Gänzlich unvermeidbar jedoch ist die Torsion, d.h. der Wirbel verdrillt: Während oben der Stimmhammer versucht, ihn zu drehen, hält ihn unten der Stimmstock fest, er wird quasi gewrungen wie ein nasser Lappen. Da wir es nicht mit einem nassen Lappen zu tun haben, sondern mit einem recht dicken Stahlstab, ist diese Torsion extrem klein, aber sie ist bei festem Wirbelsitz immer spürbar, denn die Dehnungslängen der Saiten sind eben auch sehr klein, deswegen kann diese minimale Verdrillung genügen, die Spannung zu ändern.
Wie das Biegen federt auch die Torsion zurück, sobald der Stimmhammer keine Kraft mehr ausübt. Ob bereits die Torsion ausreicht, die Tonhöhe zu ändern, hängt davon ab, wie fest der Wirbel sitzt, wie hoch die Reibungen sind und wie lang das vordere Saitenende ist. Auf jeden Fall aber hat die Torsion Einfluß auf die Spannungsverhältnisse, denn auch hierbei sorgt das Zurückfedern dafür, daß das tote Ende nach Absetzen des Stimmhammers wieder an Spannung verliert.
Der richtige Spannungsausgleich
Man kann annehmen, daß die Spannungsdifferenz zwischen totem und klingendem Saitenende möglichst gering sein muß, wenn die Stimmung halten soll, denn dann sorgt der Reibungswiderstand der Saite dafür, sie hinreichend zu fixieren, während ein zu großes Spannungsdefizit des toten Endes die Stimmung schnell wieder absacken, ein Überschuß die Stimmung schnell wieder ansteigen lassen würde, denn da das eine oder das andere Saitenende bereits vorgespannt wäre, wäre die Reibung in die eine oder andere Richtung schneller überwunden.
Wie aber erreicht man optimale Spannungsverhältnisse?
Am wichtigsten ist, den Wirbel im Holz wirklich zu drehen. Die Elastizität des Wirbels kann ja dazu führen, daß sich die Tonhöhe bereits ändert, ohne daß sich der Wirbel im Holz auch nur im mindesten bewegt hätte. Deswegen ist die Hörkontrolle allein nicht ausreichend, sondern es ist immer sicherzustellen, daß der Wirbel wirklich bewegt wird, auch wenn man dazu den Ton zunächst zu hoch ziehen muß. Danach gilt es, die Tonhöhe wieder herabzulassen, ohne daß es zu einem Spannungsdefizit käme. Es gibt dazu eine Methode, die man die bracchiale nennen könnte:
– Man dreht die Saite etwas zu hoch, wobei sich der Wirbel im Holz wirklich bewegen muß.
– Danach biegt man mit ausreichender Kraft den Wirbel wieder herab, um die Saite durch einige forte-Anschläge auf die richtige Tonhöhe herabrutschen zu lassen. Durch das Hinabbiegen erzeugt man am toten Ende ein Spannungsdefizit, doch
– federt nach dem Absetzen des Stimmhammers der Wirbel wieder zurück und spannt dadurch das tote Ende wieder nach.
Es macht übrigens keinen Sinn, die Tonhöhe durch forte-Anschläge allein, also durch sog. Einpauken ohne Unterstützung durch den Stimmhammer, zu erniedrigen, denn wenn das möglich ist, heißt das schlicht, daß die Stimmung nicht hält!
Die Saite anfänglich zu überziehen, um sie dann durch Biegen des Wirbels wieder hinabzulassen, kann sehr gut funktionieren, wenn man dabei nicht zu viel hinabbiegen muß, denn dann erhält man durch das Zurückfedern einen zu großen Spannungsüberschuß, und die Stimmung wird nach einiger Zeit weiter ansteigen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist immerhin, daß Biegen entschieden einfacher ist als genaues Drehen, der Nachteil, daß die Bohrungen im Stimmstock darunter leiden, man auf Dauer also das Instrument ruiniert, zumindest bei zu starkem Biegen.
Das Prinzip dieser Methode ist jedoch durchaus richtig, aber man sollte den Wirbel, so weit möglich, nicht biegend, sondern drehend zurückdrücken, die Stimmer nennen dies das »Setzen« des Wirbels. Beim Hochdrehen muß er sich im Holz bewegen, beim Zurückdrehen darf er es nicht, man darf ihn nur so weit wieder herunterdrehen, wie es seine Elastizität erlaubt. Bewegt er sich dabei nämlich doch merklich im Stimmstockholz, so hätte man abwärts gestimmt und würde ein Spannungsdefizit erhalten.
Das erhält man auch, wenn man anfänglich die Saite zu wenig überzieht, denn dann kann man den Wirbel auch nur wenig zurückdrücken, so daß er nicht genügend zurückfedert, um das tote Ende ausreichend nachzuspannen.
Was es also zu erlernen gilt, ist das nötige Fingerspitzengefühl für die richtige Größe der Bewegungen und den zulässigen Kraftaufwand, und das kann sehr vom Instrument abhängen, aber auch von der Tonlage (der Diskant muß anders behandelt werden als der Baß) und sogar von jeder einzelnen Saite: Die drei Saiten benachbarter Diskanttöne sind immer verschieden lang, weil die Wirbel versetzt angeordnet sind (reales Beispiel: längste Saite des f'''
Stimmhammer-Handhabung
Wer selber stimmen möchte, benötigt offensichtlich einiges an Lehrzeit oder eine sehr gutmütige Saitenanlage, die Fehler in der Stimmhammer-Handhabung nicht krumm nimmt. Wer es dennoch wagen will, der benötigt vor allem einen brauchbaren Stimmhammer. Der sollte
– erstens schwer und stabil genug sein, damit man ohne Kraftverlust arbeiten kann;
– zweitens paßgenau auf dem Wirbel sitzen, so daß er nicht verkanten kann;
– und drittens in der Hebellänge verstellbar sein.
Es gibt professionelle Ausführungen, die ein verstärktes Knie haben, deren Griff ausziehbar ist und die für verschiedene Wirbelgrößen auswechselbare Einsätze haben.
Eigentlich sollte man denken, daß lange Hebel das Stimmen erleichtern. Stimmer arbeiten jedoch eher mit relativ kurzen Griffen, denn sonst ist es nicht eindeutig fühlbar, wann die Torsion des Wirbels in wirkliche Drehbewegung übergeht, weil auch der Stimmhammergriff dann zu sehr federt.
Wichtig ist, wie man den Hammer ansetzt, dessen Griff immer in Verlängerung der Saitenrichtung zeigen sollte, denn dann wirkt auch evtl. unvermeidliches Biegen in Saitenrichtung, so daß man dies kontrollieren und evtl. korrigieren kann.
Klaus Fenner (nachzulesen in: U. Laible, »Fachkunde Klavierbau», Band 1) kommt auf etliche instrumentenabhängige Kombinationen, die es zu beherrschen gilt, je nach dem, ob die Wirbel fest oder locker sitzen, das vordere Saitenende lang oder kurz ist und die Reibungen hoch oder gering sind. Die Abhängigkeiten sind folgende:
Je nach dem, ob einer dieser drei Werte klein, groß oder optimal ist, ergeben sich so 3 x 3 x 3, also 27 mögliche Konstellationen, die unter Umständen verschiedene Behandlung erfordern.
Das legt die Frage nahe, ob die Konstruktion der Stimm-Mechanik wirklich das Non-Plus-Ultra zeitgemäßer Technik ist. Sie ist offensichtlich schwer beherrschbar, und Klagen anspruchsvoller Kunden, daß es schwierig sei, einen guten Stimmer zu finden, sind nicht selten. Tatsächlich stellt die Bauweise ja nichts anderes als einen Nagel in einem Brett dar und stammt noch aus alten Cembalo-Tagen, als die Saitenspannungen wesentlich geringer, die Reibungen wesentlich kleiner waren und die Stimmnägel längst nicht so fest sitzen mußten wie beim modernen Klavier. Dies wurde vereinzelt immer wieder als großer Mangel empfunden, und so hat es auch immer mal wieder Versuche gegeben, eine andere Stimm-Mechanik zu konstruieren, ein Beispiel zeigt folgende Abbildung:
Das Problem solcher Konstruktionen ist, daß sie selten zur endgültigen Reife gelangen, daß sie evtl. andere Nachteile haben und daß sie wenig Akzeptanz finden, weil die Klavierkonstruktion für sie abgewandelt werden müßte, denn einfacher und platzsparender als die herkömmliche Bauweise wird wohl kaum etwas sein können.
Woher obige Konstruktion stammt, konnte ich bisher nicht ermitteln, das Bild schickte mir ein Stimmer, der berichtete, daß er damit entschieden mehr Zeit zum Stimmen benötigte und eine Schraube brach. Stimmer, die ihr Handwerk beherrschen, halten darum solche Versuche für überflüssig, und bei den Klavierherstellern denkt man wohl genauso.
Solange es keine Konstruktion gibt, die weit genug verbreitet wäre, um längere Zeit erprobt und optimiert werden zu können, wird aber auch kaum zu entscheiden sein, ob brauchbare Alternativen nicht doch sinnvoll und möglich sind.
Temperieren nach Schwebungszahlen
Professionelle Klavierstimmer legen die Temperatur in einer Oktave der Mittellage nach den theoretischen Schwebungszahlen. Da das Obertonspektrum der Klaviersaiten inharmonisch und unregelmäßig ist, sind diese theoretisch errechneten Schwebungen eigentlich ungenau, führen in der Praxis aber zu brauchbaren Ergebnissen, da der Stimmer durch zahlreiche Hörproben verschiedener Intervalle Fehler ausgleichen und verteilen kann und sowieso eher auf gleichmäßige Verteilung als auf absolut genaue Schwebungsfrequenzen achtet. Außerdem mißt er diese ja nicht präzise, sondern schätzt sie nur ab.
Zum Temperieren lassen sich verschiedene Quintenzirkel benutzen. Da man meist mit dem Stimmgabel-a beginnt ist ein denkbarer z.B. dieser:
Nach 12 Quinten, bzw. Quarten, muß man dabei wieder beim ursprünglichen a ankommen. Ob einem das gelingt, man also alle Quinten im richtigen Maße verengt, bzw. Quarten erweitert hat, würde man erst bei der letzten Quinte feststellen, wenn man nicht vorher schon andere Intervallproben zu Hilfe nähme. Z.B. steht nach dem Stimmen des vierten Tones fis die kleine Terz fis-a als Kontroll-Intervall zur Verfügung, nach dem Stimmen des cis die Sexte cis-a und die Terz cis-e, und mit jedem weiteren Ton werden es immer mehr. Entsprechen die Schwebungen dieser Intervalle den Sollwerten, kann man relativ sicher gehen, daß die Temperierung gelingt.
Da der Stimmer sich nur auf sein Gehör verläßt, werden Unregelmäßigkeiten, die sich aus der Inharmonizität ergeben, automatisch berücksichtigt, so daß der Stimmer, der es lange genug geübt hat, auch temperieren könnte, wenn er von der Inharmonizität gar nichts wüßte.
Nicht berücksichtigt würden diese Unregelmäßigkeiten, wenn man die Temperatur nach einem Stimmgerät legte, denn wie sehr ein Intervall gestreckt werden muß, kann immer nur das Ohr entscheiden, und es kann bei jedem einzelnen Intervall unterschiedlich sein. Deshalb benutzen gute Stimmer keine Stimmgeräte, denn das bedeutete Handeln wider besseres Wissen und Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit.
Temperieren mit Stimmgerät und Taschenrechner
Trotzdem gibt es eine Methode, auch mit Stimmgeräten brauchbare Temperierungen zu erhalten, die die Unregelmäßigkeiten ebenfalls automatisch berücksichtigt. Die wesentliche Überlegung, die dahintersteckt, ist:
Die temperierte Stimmung verteilt den Überschuß, den zwölf reine Quinten gegenüber der Oktave haben (das sog. pythagoräische Komma), gleichmäßig auf alle Quinten. Ob diese Quinten, wie bei harmonischen Obertönen, alle gleich groß sind oder ob sie, wie bei inharmonischen Teiltonspektren, Unregelmäßigkeiten aufweisen, ist dabei eigentlich egal, wenn ihre Größe bekannt ist. Weiß man also, wie groß jede einzelne Quinte sein muß, kann man den Überschuß leicht berechnen und verteilen.
Das Ganze beruht sozusagen auf dem Prinzip »teile und herrsche«. Anstatt nämlich den Quintenzirkel sofort temperiert durchzustimmen, läßt sich die Aufgabe in drei Teilaufgaben zerlegen:
Beim ersten Schritt, der Ermittlung der reinen Intervalle, kommt es auf das Handwerkliche nicht an, man stimmt nur vorläufig und muß es noch nicht wirklich haltbar hinbekommen. Beim endgültigen Einstimmen kommt es auf das Hören nicht mehr an, denn die Tonhöhen hat man vorher ausgeklügelt.
Beides, die Fähigkeit zu hören und die handwerkliche Beherrschung, bleibt natürlich trotzdem Voraussetzung für den Erfolg. Allzu viel vergebliches Herumprobieren kann nicht nur den Saiten schaden, sondern bei falscher Technik auch den Stimmnagel-Bohrungen im Stimmstock.
Die Methode ist zwar aufwendig, aber man muß eine Stimmung nur einmal ermitteln, um sie dann immer wieder benutzen zu können - jedenfalls so lange, wie sich die Inharmonizitätswerte durch die Alterung der Saiten nicht spürbar ändern. Außerdem hat sie durchaus zwei Vorteile: Erstens ist es für das Ohr wesentlich leichter, die Stimmung reiner Intervalle zu ermitteln als zu temperieren, und zweitens kann man immer sicher sein, daß man mit dem Quintenzirkel auskommt, selbst wenn man Fehler macht.
Das Stimmgerät wird hierbei zum einen benutzt, um mit dem Ohr ermittelte Tonhöhen nachzumessen, zum anderen, um nach berechneten Werten einzu-stimmen. Dazu sollte es genau genug messen (0,5 Cent oder besser) und eine zuverlässige Anzeige liefern.
(Eine Empfehlung findet man unter http://www.tuning-set.de).
1. Schritt - Wahl der Temperatur-Oktave
Die Oktave, in der man die Temperierung legt, sollte möglichst geringe Inharmonizitäten aufweisen. Theoretisch ist dies bei den längsten Blanksaiten der Fall, tatsächlich aber wäre ein Klavier dann schlecht konstruiert, es würde nämlich ein deutlicher Inharmonizitätssprung bei der ersten umsponnenen Saite auftreten. Klug ausgelegt ist eine Saitenmensur deshalb dann, wenn bei den letzten blanken Saiten die Inharmonizität schon wieder ansteigt. Die Temperatur-Oktave sollte darum einige Töne über der ersten umsponnenen Saite liegen. Da das von der Instrumentengröße abhängt, kann sie also von Instrument zu Instrument verschieden sein. Übliche Stimmzirkel liegen meist im Bereich von d bis a'. Wir nehmen hier einen Zirkel von f bis e' an:
Daß wir diesen bei as beginnen, hat den einfachen Grund, daß er sich dann ohne enharmonische Verwechslungen notieren läßt. In der Praxis ist es völlig gleichgültig, mit welchem Ton man beginnt, und bei den Rechnungen, die weiter unten beschrieben werden, ist die Oktavlage unerheblich.
2. Schritt - Vorstimmen
Die Inharmonizitätswerte sind nicht nur von der Saitenmensur, sondern auch von der Saitenspannung abhängig. Evtl. kann die Inharmonizität einer Saite also eine andere sein, wenn die Tonhöhe deutlich zu tief oder zu hoch ist. Obwohl es bei unserer Methode zunächst nicht auf die endgültige Tonhöhe ankommt, empfiehlt es sich deshalb, die Temperatur-Oktave vorzustimmen. Dies kann mit Hilfe des Stimmgerätes geschehen, indem man alle zwölf Töne erst einmal auf null Cent einstimmt (bezogen auf a' = 440 Hz).
3. Schritt - Ermittlung der reinen Quinten
Beim Einstimmen des ganzen Quintenzirkels in reinen Intervallen würde man die Tonhöhen des Klaviers über Gebühr erhöhen und die Saiten überstrapazieren, denn das abschließende gis läge bereits deutlich über der Tonhöhe des anfänglichen as, nämlich, abhängig von der Inharmonizität, in der Größenordnung von ca. 24 Cent. Dies läßt sich auf einfache Weise vermeiden, indem nur jede zweite Saite bewegt wird (hier mit schwarzen Notenköpfen dargestellt):
Man ermittelt also sowohl die Größe der Quinte as-es als auch der Quarte es-b, indem man nur das es verstimmt. Auf diese Weise wird die Spannung nur jeder zweiten Saite verändert, und gleichzeitig ergibt es sich, daß die Tonhöhe dieser Saite beim nächsten Intervall wieder abgesenkt wird, so daß ein allgemeines Ansteigen der Tonhöhen vermieden wird. Außerdem wird natürlich zunächst nur eine einzige Saite jedes Tones gestimmt, am besten die mittlere, das Chorreinstimmen erfolgt selbstverständlich erst, nachdem die Temperierung vollständig ermittelt worden ist.
Es ist zwar wesentlich einfacher, nach dem Gehör rein als nach dem Gehör temperiert zu stimmen, aber die Akustik des Klaviers und die Inharmonizität machen dies dennoch nicht gerade leicht. Außer auf weitgehende Schwebungsfreiheit zu hören, kann es sehr hilfreich sein, die Differenztöne wahrzunehmen; je deutlicher dies möglich ist, umso reiner ist das Intervall. Der Differenzton einer Quinte liegt eine Oktave unter dem unteren Ton, der einer Quarte zwei Oktaven unter dem oberen:
(Zusätzlich gibt es bei der Quarte einen weiteren Differenzton, der eine Oktave höher liegt als der unterste Differenzton.) Ist man sicher, das reine Intervall gefunden zu haben, werden die Centwerte beider Töne mit dem Stimmgerät nachgemessen und notiert.
4. Schritt: Berechnung der Temperatur
Dies geschieht am besten in einer Tabelle. Diese Tabelle in HTML-Form, die die Berechnungen automatisch vornimmt, finden Sie hier:
Berechnungstabelle.
In den Spalten I und II stehen die Meßwerte der reinen Intervalle, in Spalte III die Differenzen II-I, also die Intervallgrößen. Hierbei ist die Oktavlage der Töne völlig unerheblich, d.h. es ist egal, ob das jeweilige Intervall eine Quinte oder eine Quarte ist, denn gerechnet wird immer in dieselbe Richtung des Quintenzirkels (die allerdings ist beizubehalten, es ist also immer II-I zu rechnen, nie I-II!), wodurch sich die richtige Vorzeichnung automatisch ergibt. Die Tabelle kann so für jede beliebige Oktavlage benutzt werden, es ist also gleich, ob die Temperatur-Oktave z.B. von f - e' oder von a - gis' reicht.
In Spalte IV steht der Überschuß, der aus den Intervallgrößen resultiert, indem man die Werte aus Spalte III aufaddiert. Dieser Überschuß muß durch 12 geteilt werden, das Ergebnis steht in Spalte V. Dies ist der Wert, um den jedes Intervall verkleinert werden muß, und zwar wiederum unabhängig davon, ob das Intervall eine Quarte oder eine Quinte ist. Obwohl Quinten in der temperierten Stimmung verkleinert, Quarten aber vergrößert werden müssen, braucht dies hier nicht beachtet zu werden, weil die Intervallgrößen immer in Richtung des Quintenzirkels ermittelt wurden, nicht in Richtung der Tonhöhen.
In Spalte VI findet man die Intervallgrößen aus III um diesen Wert verkleinert, und in Spalte VII schließlich die berechnete Temperierung, die ausgehend vom as die neuen Intervallgrößen wieder aufaddiert:
es = as + Intervallgröße es-as
b = es + Intervallgröße b-es
usw.
Die berechnete Temperierung ist evtl. noch um die gewünschte Tonhöhe zu korrigieren, also insgesamt höher oder tiefer zu nehmen, so daß das a' gleich 0 Cent, also auf Kammertonhöhe gesetzt wird. Wurde die Oktavlage so gewählt, daß das a in der Tabelle das kleine a und nicht der Kammerton a' ist, muß dazu evtl. erst einmal wieder mit dem Ohr die Oktave a-a' ermittelt werden. In der Regel wird für a' = 0 Cent das kleine a bei ca. -2 Cent liegen, das ist die durchschnittliche Oktavstreckung, mit der man in dieser Tonlage rechnen muß. Auf den Durchschnittswert kann man sich aber nicht verlassen, die tatsächlich notwendige Streckung ist immer mit dem Ohr zu überprüfen!
5. Schritt: Einstimmen der Temperatur-Oktave
Jetzt kann die Temperatur-Oktave nach den berechneten Tonhöhen eingestimmt werden, die genauer sind, als man sie realisieren könnte, es muß also gerundet werden; mit einem geeigneten Stimmgerät lassen sich dabei auch noch Genauigkeiten in der Größenordnung von 1/4 Cent abschätzen.
Fehler, die klein genug bleiben, sind dabei unschädlich, denn die ganze Art des Vorgehens sorgt dafür, daß man immer mit dem Quintenzirkel auskommt.
6. Schritt: Qualitätskontrolle
Bevor die restlichen Töne nach dieser Oktave eingestimmt werden, sollte man die Güte des Erreichten überprüfen. Dem dienen drei Hörproben, nämlich das Abhören der nun temperierten Quinten (bzw. Quarten), der großen Terzen (bzw. kleinen Sexten) und der kleinen Terzen (bzw. großen Sexten), also aller konsonanten Intervalle, die innerhalb der gewählten Temperatur-Oktave liegen (hier f - e'):
Die Reihenfolge der Intervalle (Quinten vor Quarten, kl. Sexten vor gr. Terzen, kl. Terzen vor gr. Sexten) wurde hier so gewählt, daß ihre Schwebungsfrequenzen gleichmäßig zunehmen sollten, und es sollte weder ein auffällig schlecht, noch ein auffällig gut klingendes Intervall geben. Für die Beurteilung, ob ein Ton zu hoch oder zu tief ist, gilt:
– Schlecht klingende Quinten sind wahrscheinlich zu eng, schlecht klingende Quarten zu weit,
– große Terzen zu weit, kleine Sexten zu eng,
– kleine Terzen zu eng, große Sexten zu weit.
Solche Fehler können nur drei Ursachen haben:
– Die Stimmung nach der errechneten Temperatur wurde nicht genau genug vorgenommen, oder ein Ton hat die Stimmung nicht gehalten. Das ist als erstes zu überprüfen, d.h. es ist nachzumessen, ob die Tonhöhen tatsächlich den errechneten Werten entsprechen.
– Bei der Ermittlung der reinen Quinten (Quarten) wurden Fehler gemacht. Dann sind einzelne Quinten noch einmal zu überprüfen, das reine Intervall ist also noch einmal zu ermitteln. Dadurch wird sich die errechnete Stimmung aber wieder ändern, evtl. muß dann also die ganze Oktave noch einmal korrigiert werden.
– Eine einzelne Saite hat einen Ausreißer in den Inharmonizitätswerten. Dagegen läßt sich nichts tun, man muß das schlecht klingende Intervall so stehen lassen, denn die Verbesserung eines einzelnen Intervalls würde gleichzeitig immer auch die Verschlechterung einiger anderer, also eine »Verschlimmbesserung« bedeuten.
Tatsächlich steht und fällt diese Methode der Temperierung mit der Zuverlässigkeit, mit der man die reinen Intervalle ermittelt. Gegenüber dem Temperieren nach Gehör besteht dabei aber immerhin der Vorteil, daß Fehler sich nicht summieren können.
Nach dem Legen der Temperatur werden der Diskant nach rechts aufwärts und der Baß nach links abwärts in Oktaven gestimmt. Das wird umso schwieriger, je weiter man in die Randlagen kommt, wobei die höchsten Diskanttöne andere Probleme aufwerfen als die tiefsten Bässe.
Reine Oktaven
Theoretisch sind Oktaven rein, wenn sie schwebungsfrei sind. Da die beiden Töne einer Oktave jeden zweiten Teilton gemeinsam haben, sind immer mehrere Schwebungen wahrnehmbar, am deutlichsten folgende:
a) Die Schwebungen der gemeinsamen Teiltöne;
b) Schwebungen nicht gemeinsamer Teiltöne, die durch zusätzliche Differenztöne entstehen;
c) Schwebung des unteren Oktavtons, die ebenfalls auf Differenztöne zurückzuführen ist.
Alle diese Schwebungen sollten weitgehend verschwunden sein, wenn die Oktave stimmt - weitgehend, nicht immer vollständig. Denn tatsächlich wird man feststellen, daß nicht alle gleichzeitig bei derselben Tonhöhe eliminiert sind, sondern mal die eine, mal die andere zu hören ist, und vor allem die umsponnenen Saiten selten ganz eindeutige Urteile zulassen, weil hier die Inharmonizität am größten und unregelmäßigsten ist. Man kommt deshalb oft nicht ohne zusätzliche Kontroll-Intervalle aus.
Kontroll-Intervalle
Es gibt einige Regeln, die im Zweifelsfall hilfreich sein können:
1. Komplementär-Intervalle schweben gleich schnell. Wenn die Oktave stimmt, müssen folgende Intervalle jeweils dieselbe Schwebungsfrequenz aufweisen:
Die Quarte g'-c'' sollte also genauso schnell schweben wie die Quinte c''-g''. Dies gilt jedoch nur für die angegebene Reihenfolge, d.h. die Quarte muß über der Quinte, die große Sexte über der kleinen Terz, die große Terz über der kleinen Sexte liegen. Dabei ist es eigentlich gleichgültig, ob der Vergleichston, der zwischen den beiden Oktavtönen liegt, tatsächlich stimmt. Stimmt er nicht, ändert sich zwar die Frequenz der Schwebung, aber daß beide Zusammenklänge gleich schnell schweben, bleibt weiterhin gültig.
2. Oktavierte Intervalle schweben gleich schnell. Die große Terz hat dieselbe Schwebungsfrequenz wie die große Dezime, die Quinte dieselbe wie die Duodezime:
3. Zwei reine Oktaven ergeben eine reine Doppeloktave. Das ist trivial, aber im Zweifelsfall ist es nützlich, die Doppeloktaven zum Vergleich heranzuziehen.
4. Die Schwebungen nehmen aufwärts gleichmäßig zu, bzw. abwärts gleichmäßig ab. Hiermit läßt sich durch chromatisch auf- oder absteigende Intervallfolgen die Gleichmäßigkeit der Stimmung überprüfen. Der Stimmer kontrolliert so vor allem die Baßoktaven, und zwar mit der Dezime, deren Schwebungen sehr gut zu hören sind. Evtl. können im Baß aber sogar die Septimen hilfreich sein:
Alle diese Regeln gehen von zwei wesentlichen Annahmen aus, nämlich daß trotz der Inharmonizität alle Intervalle sehr gleichmäßig temperiert oder rein gestimmt werden können und daß die Streckung, die sich aus der Inharmonizität ergibt, für alle Intervalle gleich ist, oder anders: daß korrekt temperierte Quinten automatisch korrekt temperierte Quarten ergeben (von den unvermeidlich vorhandenen Unregelmäßigkeiten einmal abgesehen). Darüber, ob diese Annahme statthaft ist, belehrt ein einfacher Versuch:
Bei einem Kleinklavier wurde die Quinte c''-g'' möglichst rein gestimmt, desgleichen die Quarte g''-c'''. Theoretisch müßten beide zusammen eine reine Oktave c''-c''' ergeben. Die Hörkontrolle zeigte, daß das nicht der Fall ist, die mit dem Ohr ermittelte Oktave war kleiner als die, die sich aus Quinte plus Quarte ergab:
Dies wäre auch nicht anders, wenn man nicht reine, sondern temperierte Intervalle nähme, weil dann ja die Quarte um dasselbe Maß verengt wäre wie die Quinte erweitert. Das ist zugleich der Grund, weswegen Komplementär-Intervalle theoretisch immer gleich schnell schweben. In diesem Beispiel jedoch würden sie das eben nicht tun, bzw. nur wenn die Oktave nicht stimmt. Gewährt man der Oktave Priorität, ist die Folge, daß man Quinten und Quarten insgesamt etwas stauchen muß; dadurch werden die Quinten schlechter und die Quarten besser. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Oktaven stimmen sollen, müssen Quinten und Quarten verschieden temperiert sein!
Erklären kann man das damit, daß für die Quinte höhere Teiltöne maßgeblich sind als für die Oktave, und für die Quarte höhere als für die Quinte. Die höheren Teiltöne aber weichen deutlicher vom harmonischen Wert ab, darum müßten Quinten relativ mehr gestreckt sein als Oktaven, was aber nicht praktikabel ist, weil man dann unsaubere Oktaven erhielte - ein Umstand, der in der Mittellage noch einigermaßen vernachlässigbar ist, zu den Randlagen hin aber immer deutlicher in Erscheinung tritt.
Klanglich ist er durchaus wahrnehmbar, z.B. bei Dreiklängen in enger Lage im Diskant. Ab etwa der zweigestrichenen Oktave werden solche Dreiklänge zunehmend unsauberer, auch wenn das Klavier optimal stimmt. Allerdings hat der Spieler hierauf Einfluß, indem er Spitzentöne lauter spielt als Mittelstimmen, denn dadurch geht der Obertongehalt der Mittelstimmen zurück, es dominieren die Obertöne des Spitzentons, und störende Interferenzen sind weniger hörbar.
Kontrolle durch das Stimmgerät
Eine gute Möglichkeit für nicht professionell Stimmende, gleichmäßige Oktaven zu finden, ist, die reinen Quinten zu Hilfe zu nehmen. Angenommen beim Aufwärtsstimmen soll die Oktave f'-f'' gefunden werden. Dazu stimmt man das f'' erst einmal als reine Quinte zum b' ein, theoretisch sollte es dadurch 2 Cent zu hoch werden. Nun stimmt man die Oktave und läßt das f'' um nicht mehr als 2 Cent herab, was man mit dem Stimmgerät kontrollieren muß. So steht einem wenigstens ein Kontroll-Intervall zur Verfügung.
Je höher man dabei kommt, umso mehr wird man feststellen, daß die Abweichungen zwischen Quinten und Oktaven größer werden und daß es in hoher Lage zunehmend schwieriger wird, reine Quinten zu finden. Deshalb empfiehlt sich für die letzte bis letzten anderthalb Oktaven ein anderer Weg:
Man mißt mit dem Stimmgerät den zweiten Teilton des unteren Oktavtons und stimmt den oberen Oktavton danach ein. (Um den zweiten Teilton des f''' zu messen, muß man das Stimmgerät auf den Ton f'''' einstellen und benötigt ein Stimmgerät, das den zu messenden Ton genügend steilflankig ausfiltert.) Theoretisch ist dieser Weg eigentlich nicht zulässig, denn die Regel, daß die Oktave rein sei, wenn sie mit dem zweiten Teilton zusammfalle, kann man zwar immer wieder lesen, ist aber, wie Messungen guter Stimmungen beweisen, eindeutig falsch, weil nicht nur der erste gemeinsame Teilton das Klanggemisch aus Teiltönen und zahlreichen Interferenzen bestimmt. Bei den höchsten Tönen jedoch kann man hiermit trotzdem gute Ergebnisse erzielen, denn wegen des Klangcharakters des letzten Diskants, der ja nur relativ kurz klingt, und wegen der enormen Inharmonizität ist der Toleranzspielraum hier größer als in der Mittelage, und es kommt hier eher auf möglichst gute Chorreinheit an und weniger auf genau temperierte Intervalle. Die gibt es in den höchsten Lagen sowieso nicht mehr, dazu ist die Inharmonizität hier zu groß. Natürlich hält sich auch hier die Toleranz in einem gewissen Rahmen, aber der wird durch das Einstimmen nach dem zweiten Teilton kaum überschritten.
Im Baß empfiehlt sich statt der Quinte als Hilfsintervall die Quarte. Will man z.B. die Oktave d-d' finden, stimmt man das d zunächst als reine Unterquart zum g ein und stimmt dann die Oktave, indem man es um wiederum nicht mehr als 2 Cent herabläßt. Würde man die Quinte benutzen, müßte man es anschließend höher ziehen, was nachteilig ist. Bis zu welcher Tiefe diese Methode funktioniert, hängt sehr vom Klavier ab, nämlich davon, bei welchem Ton die umsponnenen Saiten beginnen. Je höher dieser liegt, umso früher wird auch die Inharmonizität auffallend unregelmäßig.
Im tiefsten Baß ist ohne zusätzliche Hilfsintervalle kaum auszukommen, wobei man vornehmlich die Doppeloktave und die Duodezime überprüfen kann. Außerdem lassen sich auch Dur-Akkorde zur Kontrolle heranziehen, z.B. über der Oktave A,-A ein A-dur-Akkord in Terzlage, also die Töne e-a-cis', oder der Quartsextakkord, also die Töne a-d'-fis'.
Hätte unser Gehör nicht eine gewisse Toleranz gegenüber nicht ganz reinen Zusammenklängen, dann gäbe es nicht nur das Klavier nicht, sondern unsere gesamte Musik müßte uns scheußlich vorkommen. Das Temperieren ist ja keineswegs eine Notwendigkeit nur der Tasteninstrumente, auch beim Zusammenspiel beliebig anderer Instrumente ergeben z.B. vier reine Quinten keine reine Sexte und müssen angeglichen werden.
Da wir zum Glück Verstimmungen bis zu einem gewissen Grade ertragen und da sie uns oftmals nicht einmal bewußt werden, dürfen wir getrost davon ausgehen, daß Fehler in der Temperatur ebenfalls kaum bemerkt werden, wenn sie innerhalb einer gewissen Grenze bleiben. Das sieht bei der Chorreinheit aber schon ganz anders aus, denn von allen Intervallen ist die Prime erstens für Verstimmungen am empfindlichsten, und zweitens entscheidet sie mehr als alles andere über die Klangqualität: Chorunreine Töne verlieren jede Sanglichkeit und geben je nach Grad der Unreinheit dem Klavier jenen Charakter, der aus einem Musikinstrument eine »Drahtkommode« macht.
Einige Klavierstimmer behaupten, daß Chorreinheit nicht nur das Wichtigste beim Stimmen sei, sondern auch das Schwierigste, denn die Genauigkeit hierbei bestimmt den »Schmelz« eines Instruments. Untersuchungen von Gabriel Weinreich, Physiker an der Universität in Michigan, konnten zeigen, daß Art und Dauer des Nachklangs eines Klaviertons von der Fehlstimmung eines Chores abhängen (nachzulesen in Spektrum der Wissenschaft, 3/1979). Überschreitet die Fehlstimmung nicht einen bestimmten Wert, sorgt die Kopplung der Saiten über den Steg dafür, daß ihre Schwingungen sich synchronisieren. Dabei kann eine geringe Fehlstimmung sogar für längeren Nachklang sorgen, allerdings muß diese deutlich unterhalb der Grenze liegen, ab der man von hörbarer Verstimmung sprechen könnte. Es ist also keineswegs so, daß durch die Saitenkopplung die erforderliche Präzision geringer würde.
Tatsächlich unterscheidet sich ein chorreiner Ton von einem unreinen nicht nur durch die Schwebungsfreiheit, sondern durch einen Qualitätssprung im Klang. Beim Stimmen vermittelt sich dem Ohr dieses Phänomen dadurch, daß man den Eindruck bekommt, der Ton würde in einer bestimmten Klangqualität und Tonhöhe »einrasten». Dieses »Einrasten« ist bereits am Tonanfang spürbar, also bevor der Ton lange genug geklungen hätte, um Schwebungen hörbar werden zu lassen.
Natürlich kommt dies bei guten Instrumenten deutlicher zum Tragen als bei mangelhaften, denn klirrende, fehlerhafte oder taube Saiten, hart gespielte oder schlecht intonierte Hämmer und stumpf klingende Resonanzböden wirken sich immer auch auf die Qualität der Stimmung aus. Andererseits aber kann ein verstimmtes Spitzenklavier miserabler klingen als ein gut gestimmtes Billigst-Instrument, so daß die Stimmqualität vielleicht mehr als alles andere zur Klangqualität eines Instruments beiträgt.